Was ist bisher an der Groner Landstraße 9-9b passiert?

Die Bewohner*innen der Häuserkomplexes Groner Landstraße 9-9b (GL9) in Göttingen wurden 2020 von der Stadtverwaltung mit Zäunen und massivem Polizeiaufgebot in dem Komplex eingesperrt. Grund dafür: Einige der 700 Anwohner*innen hatten sich mit dem Corona-Virus infiziert. Die damalige Sozialdezernentin Petra Broistedt, heute Bürgermeisterin der Stadt Göttingen, argumentierte: Man müsse die Stadtbevölkerung schützen. In der Groner Landstraße 9-9b selbst wurde niemand geschützt. Mangelnde Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und Windeln, ärztliche, pädagogische und psychosoziale Unterstützung: Die Bewohner*innen wollten ihre Freiheit wieder haben. Bei Protest am Zaun wurden Erwachsene wie auch Kinder mit Pfefferspray und Schlagstöcken zurückgedrängt.
Im Herbst 2023 wurde dieses Vorgehen der Göttinger Stadtverwaltung vom Göttinger Verwaltungsgericht als rechtswidrig eingestuft. Daraufhin forderte im Dezember 2023 die Anwaltskanzlei, welche die Bewohner*innen vertritt, die Stadt Göttingen außergerichtlich dazu auf, ein Schmerzensgeld auszuzahlen. Die Göttinger Stadtverwaltung reagierte auf diese Forderung nicht, woraufhin 223 Personen aus 78 Familien aufgrund rechtswidriger Freiheitsentziehung auf ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 880.850,00 Euro klagten.
Im April 2024 wurde die Groner Landstraße 9-9b dann erneut Ziel einer Maßnahme von Stadtverwaltung und Polizei. In den frühen Morgenstunden des 8. April stürmte zunächst ein Großaufgebot von niedersächsischen Polizist*innen den Gebäudekomplex und verhaftete 5 Menschen aufgrund kleinkrimineller Delikte. Ab 8 Uhr morgens bildeten Polizist*innen und Angestellte der Stadtverwaltung eine “Task-Force”. Das Ziel dieser Task-Force sei gewesen, Überbelegung, Schädlingsbefall und den Zustand der Wohnungen zu prüfen und dadurch “eine Verbesserung der Lebensbedingungen” herbeizuführen. Während der Maßnahme durften die Anwohner*innen den Gebäudekomplex nur mit einem von der Polizei ausgehändigten Schein verlassen. Die Situation erinnert an die Maßnahme von 2020.

Welche politische Dimension, und Auswirkung auf die Bewohner*innen der GL9, hat das Handeln der Göttinger Stadtverwaltung?
Dass diese Maßnahmen eine “Verbesserung der Lebensumstände” der Bewohner*innen der GL9 herbeiführen sollen, ist ein Narrativ der Stadtverwaltung, das nicht der gelebten Erfahrung der Anwohner*innen entspricht. Im Gegenteil: Durch den Kreislauf aus polizeilich-städtischen Maßnahmen und medialer Öffentlichkeit entsteht eine fortlaufende Reproduktion kriminalisierender, rassistischer Stigmatisierung. Pauschal werden alle Bewohner*innen in die Schublade schwierig zu händelnder Personen gesteckt und dadurch polizeiliche Maßnahmen legitimiert. Diese polizeilichen Maßnahmen führen dazu, dass Erwachsene wie Kinder traumatisiert zurückbleiben und schon früh Erfahrung damit machen, was es bedeutet, aufgrund der eigenen sozioökonomischen Herkunft nicht Teil einer schützenswerten Stadtgesellschaft zu sein.
Diese frühe Prägung und Stigmatisierung haben Folgen. Die Anwohner*innen der GL9 können, auch wenn sie es wollen, ihrer zugeschriebenen Rolle nicht oder nur schwer entkommen. Durch die fortlaufende Stigmatisierung ist der Umzug innerhalb Göttingens unmöglich. Viele Anwohner*innen berichten von dem Versuch, mit ihren Familien eine andere, lebenswerte Wohnung zu finden, welche genug Raum für alle Familienmitglieder hat – vergebens. Gleiches gilt auch bei der Suche nach Beschäftigungsverhältnissen, wodurch sich Armut und existenzielle Ängste weiter zuspitzen. Die Adresse Groner Landstraße 9-9b ist ein Stempel. Die Produktion dieses Stempels hat die Göttinger Stadtverwaltung mitzuverantworten.

Dass die Maßnahme im April 2024 ausgerechnet auf den 8. April – den weltweiten Tag der Roma und Romnja – gelegt wurde, zeigt erneut auf, wie wenig Sensibilisierung in der Stadtverwaltung vorhanden ist. Ein großer Teil der Bewohner*innen der GL9 hat rumänischen Hintergrund, auch Romn*ja leben dort. Rumänien ist ein Land, in dem viele Menschen von Polizeigewalt betroffen sind. Hier abermals damit konfrontiert zu sein retraumatisiert die Bewohner*innen. Wo andere Städte die Fahne der Romn*ja hissen, schlägt Göttingen mit Polizei zu. Aber was ist eigentlich diese spezifische Form des Rassismus, der Antiziganismus?
Schon während des Nationalsozialismus waren Romn*ja neben Jüd*innen die größte Opfergruppe der faschistischen Gewalt. Romn*ja sind noch heute in ganz Europa von Armut und struktureller Diskriminierung betroffen. Sie mussten lange kämpfen, um als Opfer der Nazis in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs anerkannt zu werden – und sie sind heute noch deren Opfer, wie beispielsweise in Hanau 2020. Romn*ja wurden schon immer vertrieben, ausgegrenzt und entrechtet. Dieses schwere Erbe nicht sensibel zu behandeln und einen umsorgenden und respektvollen Umgang mit Romn*ja zu finden, sondern durch weitere Stigmatisierung diese in den Gedächtnissen und Körpern lebende Diskriminierungserfahrung aufrecht zu erhalten – das ist Antiziganismus.
Inzwischen steht es auch gerichtlich fest: Die Stadtverwaltung darf so nicht mit den Bewohner*innen umgehen. Aber Petra Broistedt und Sozialdezernentin Anja Krause entziehen sich jeglicher Verantwortung und schieben diese dem insolventen Mehrheitseigentümer zu. Statt Schmerzensgeld für 2020 auszuzahlen, reagiert die Stadtverwaltung mit weiteren bestrafenden Maßnahmen, um das eigene, auch vergangene Handeln, weiter in der Öffentlichkeit zu legitimieren und sich als vernünftige Instanz zu inszenieren. Ist ja klar, wenn irgendwo viel Polizei ist, muss da ja was im Argen sein – oder nicht? Auf diese Weise funktioniert oft das naive Vertrauen in politische und polizeiliche Institutionen. Das Produkt davon – eine pauschale Erzählung über Kriminalität in der GL9 – wird dann wiederum in den Medien weiterverbreitet. Dabei verbirgt sich hinter dem scheinbar sorgevollen Kontrollieren einer Überbelegung von städtischer Seite die realistische Perspektive, dass Menschen und Familien aufgrund gesetzlicher Grundlagen auf der Straße landen, sollte der insolvente Mehrheitseigentümer nicht plötzlich mehr Wohnraum schaffen. Sieht so Fürsorge aus? Ist das, was die Stadtverwaltung unter “Verbesserung der Lebensumstände” versteht?

Was könnte die Göttinger Stadtverwaltung besser machen?
Es gibt viele Ideen, was die Stadtverwaltung besser machen könnte. Sich mit dem Roma-Center und dem Migrationszentrum statt mit der Polizei zu beraten, beispielsweise. Die Menschen bei der Wohnungssuche unterstützen. Außerdem würde Wohnungen in der Groner Landstraße 9-9b zu kaufen und zurück in die öffentliche Hand zu überführen bedeuten, dass man die Bewohner*innen konkret unterstützen könnte in der Gestaltung eines lebenswerten Umfelds. Diese Verantwortung trägt eine Stadtverwaltung. Durch eine aktive Wohnungspolitik für Entlastung auf dem Wohnungsmarkt zu sorgen ist ebenfalls eine Aufgabe der Stadt, der sie seit Jahren nicht gerecht wird – stattdessen verschärft sich die Lage immer weiter. Ebenso könnte sie Mechanismen entwerfen, um Diskriminierung bei der Wohnungssuche vorzubeugen.
Auch die Kinder und Jugendlichen durch konkrete Hilfsangebote, sei es durch spezifische personelle schulische und therapeutische Unterstützung oder spielerisch-künstlerische Angebote, ernst- und wahrnehmen, ist längt überfällig. Denn die Beschulung der Kinder aus der GL9 ist nicht, wie ein kürzlich erschienener offener Brief dreier Göttinger Grundschulen nahelegt, “gescheitert” – was gescheitert ist, ist die richtige Unterstützung von Rom*nja und diskriminierten Minderheiten seit 1945. Die Verantwortung für dieses Scheitern auf die Eltern und Kinder selbst abzuwälzen ist einfach, weil man sich dann nicht die Finger schmutzig machen muss. Aber sie ist falsch. Wer regelmäßig Polizeihundertschaften zu Kindern schickt, muss sich nicht wundern, wenn diese Kinder auffällig sind. Kinder lernen die Rolle, die ihnen von außen zugeschrieben wird, anzunehmen. Die Verantwortung der Stadt ist es jetzt und zukünftig, diese Kinder und Familien zu unterstützen mit allen Mitteln, die sie hat – und nicht mit der Polizei.