Offener Brief

Am Mittwoch, den 15. Mai 2024 wurde dieser offene Brief an die Stadtverwaltung übergeben.


Sehr geehrte Oberbürgermeisterin Broistedt,

sehr geehrte Sozialdezernentin Krause,

Vor wenigen Wochen fiel am Dienstag, den 9.4.2024 die Polizei in Ihrem Wissen und mit Ihrem Zuspruch in den Häuserkomplex Groner Landstraße 9a-b ein. Wir Göttinger*innen verurteilen dieses Vorgehen und stellen uns klar gegen die Stigmatisierung und Kriminalisierung der Bewohner*innen. Solch eine Situation darf sich nicht wiederholen. Wir betrachten diesen neuesten gemeinsamen Großeinsatz von Stadt, Polizei sowie „Taskforce“ bzw. „Stabstelle“ in einer Reihe mit dem Polizeieinsatz im Juni 2020. Die Bewohner*innen wurden damals unter unwürdigen Umständen eingesperrt und kriminalisiert. Die mediale Stigmatisierung hält noch immer an.

Dieser Einsatz wurde, wie Sie wissen, inzwischen als rechtswidrig eingestuft. Und dennoch marschierte nun vier Jahre später erneut ein massives Polizeiaufgebot mit martialischem Auftreten bei den Bewohner*innen ein. Wir sehen die Einsätze im Kontext der systematischen Diskriminierung aufgrund von Rassismus und Armut, von denen viele der Bewohnenden der Groner Landstraße 9a-b betroffen sind. Entsprechende Ressentiments und Stigmatisierungen sind ein Grund für das martialische Auftreten gegenüber den Bewohner*innen.

In der Groner Landstraße 9a-b leben zahlreiche Kinder und gerade für diese kann ein Morgen wie der am 9. April nicht nur angsteinflößend, sondern auch (re-)traumatisierend sein. Eine Machtdemonstration wie diese wird als demütigend und entmenschlichend empfunden und hinterlässt gerade bei Kindern ein Gefühl der ständigen Unsicherheit. Kindern wird das Gefühl vermittelt, aufgrund der eigenen Wohnadresse weniger Wert zu sein. Erfahrungen und Einschnitte dieser Art prägen und begleiten Menschen ein Leben lang.

Die Bewohner*innen sind verständlicherweise besorgt, dass diese Maßnahme nicht zur „Verbesserung der Lebensumstände“ beitragen wird. Maßnahmen wie diese tragen zur weiteren Stimgatisierung der Bewohner*innen bei und führen dazu, dass sie vom Wohnungsmarkt weiter ausgeschlossen werden. Allein durch Angabe der Adresse wird das erfolgreiche Bewerben auf eine neue Wohnung oder Arbeitsstelle verhindert. Wenn es Ihnen tatsächlich um das Wohl der vorort lebenden Menschen gehen würde, warum wurden die Bewohnenden dann nicht im Vorhinein über die Begehung informiert? Inwiefern genau soll ein massives Polizeiaufgebot, das Menschen um 6 Uhr morgens aus dem Schlaf reißt, zur „Verbesserung der Lebensumstände“ beitragen? Wieso kam es im Zuge der Begehung zu parallelen Hausdurchsuchungen?

Aus unserer Sicht trägt die Stadt Göttingen Verantwortung für die Situation auf dem Göttinger Wohnungsmarkt und damit auch für die Situation in der Groner Landstraße 9a-b. Über Jahrzehnte wurde sich in der Wohnraumpolitik zurückgehalten und auf eine von Investoren getriebene Stadtentwicklung gesetzt. Prekäre Wohnverhältnisse zu horrenden Mieten sind unter anderem die Konsequenz, die unsere Mitmenschen aushalten müssen. Die Menschen, die in Wohnkomplexen wie der Groner Landstraße 9a-b leben, haben die prekären Wohnverhältnisse nicht zu verantworten aber werden durch Ihre Maßnahmen gestraft.

Hören Sie auf, gezielt Menschen in Wohnungen in der Groner Landstraße 9 zu vermitteln. Werden Sie selbst aktiv und kümmern Sie sich um bezahlbaren Wohnraum für alle. Hören Sie auf, die Bewohner*innen der Groner Landstraße 9 unter Generalverdacht zu stellen und behandeln Sie sie als Individuen und als Menschen. Wir lassen es nicht zu, dass die Göttinger Stadtpolitik sie in ihren Aktionen weiterhin unmenschlich behandelt und zu ihrer Diskriminierung beiträgt. Was wir wollen ist, dass Sie Ihrer Verantwortung nachkommen, und allen Göttinger*innen ein würdevolles Wohnen und Leben ermöglichen, anstatt es zu erschweren.

In Solidarität mit den Göttinger*innen in der Groner Landstraße 9!

Unterzeichner*innen

  • SJ – Die Falken Göttingen
  • Roma Center e.V. / Roma Antidiscrimination Network
  • Basisdemokratische Linke Göttingen
  • Bundes Roma Verband e.V.
  • Bündnis “Gutes Wohnen für Alle”
  • AK Asyl Göttingen
  • Ver.di Ortsverein Göttingen
  • Ver.di Bildungswerk
  • Our House OM10
  • Flüchtlingscafe Göttingen
  • NS-Familien-Geschichte: hinterfragen – erforschen – aufklären e.V.
  • Geschichtswerkstatt Göttingen e.V.
  • Göttingen Postkolonial
  • PLEA e.V. (Partnerschaft für Ländliche Entwicklung in Afrika e.V.)
  • Frauen-Notruf Göttingen e.V. / Beratungs – und Fachzentrum sexuelle und häusliche Gewalt
  • Phoenix / Kinder und Jugendberatung bei sexueller und häuslicher Gewalt
  • Kore e.V – Frauenbildung, Sozialberatung, Mädchenarbeit
  • Kinderladen Klosterpark
  • Forum Waageplatzviertel
  • Redical M
  • Flause (Peloton e.V.)
  • Ende Gelände Göttingen
  • EndFossil: Occupy! Göttingen
  • OLAfA
  • Linksjugend [‘solid] Göttingen
  • Die Linke Göttingen / Osterode
  • DiEM25-Göttingen
  • Die PARTEI Göttingen
  • Grüne Jugend Göttingen
  • Basisgruppe Medizin
  • Basisgruppe Germanistik
  • Basisgruppe Umwelt
  • Basisgruppe Jura/Arbeitskreis kritischer Jurist*innen Göttingen
  • Basisgruppe Skandinavistik
  • Rechtsanwalt Nils Spörkel, Göttingen
  • Rechtsanwalt Sven Adam, Göttingen
  • Rechtsanwalt Rasmus Kahlen, Göttingen
  • Lino Klevesath (Mitglied des Kreisvorstandes von Bündnis 90/Die Grünen Göttingen)